Als freiwillige Sterbebegleiterin beschäftigt man sich unweigerlich mit dem Sterben und dem Tod. Und damit natürlich auch mit dem Glauben.
Immer war ich mir sicher, dass es "danach" irgendwie weitergeht. Doch trotz meiner mittlerweile vielen eigenen medialen Erfahrungen blitzt auch bei mir hin und wieder die Angst auf, die mit der Frage beginnt "...aber was wäre nun, wenn doch nicht.."...
Manchmal geht es mit dem Hadern gar soweit, dass ich nicht einmal mehr sicher bin, ob ich überhaupt möchte, dass meine Seele ewig lebt...
Denn was ist, wenn mich niemals so etwas wie wahre Erlösung erreicht, ewig gefangen im (Hamster)Rad der Wiedergeburt...?
Alles stets von neuem durchlebend, nur vielleicht auf einer nächsten (Bewusstseins)
Stufe...?
Immer wieder mit all diesen starken irdischen Gefühlen konfrontiert werdend, die es einem in der Vergangenheit oft genug nicht leicht gemacht haben, über sich selbst hinauszuwachsen...
Vielleicht möchte ich dann doch lieber vom "Nichts" verschlungen werden (wie in "Die unendliche Geschichte"). Damit sich meine Persönlichkeit, mein Individual-Bewusstsein, einfach auflöst, ERlöst wird, ich nicht nur mein irdisches, sondern auch mein Seelenkleid an der Himmelspforte abgeben und wieder in tiefste Unbewusstheit abtauchen kann.
Gerade so, wie im Film "Matrix": Einfach die blaue Pille schlucken...
In der Sterbebegleitung behält man solche Gedanken und Glaubenskrisen natürlich für sich, denn es ist der Patient, auf dessen Persönlichkeit und Glauben wir uns einlassen und für den wir auf diesem letzten Weg voll und ganz da sind. Wir befinden uns mit ihm in einem heiligen Raum, indem es Dinge gibt, die unantastbar sind - und bleiben. Die menschliche Würde ist dabei die tragende Sänfte. In empfänglichen Momenten ergeben sich bereichernde Gespräche, in denen hoffnungspendende Perspektiven auf den Tod und was danach kommt wie von selbst entstehen dürfen und bisweilen gibt es Patienten, die mit ihrem starken und unerschütterlichen Glauben unseren eigenen Glauben neu zu beleben vermögen.
Das Geben und Nehmen, der empfindliche Ausgleich, der sich zwischen zwei Lebewesen einstellt, die nichts (mehr?) zu verlieren (oder gewinnen) haben, ist wohl nie so stark wie in der letzten Lebensphase.
Man begegnet sich auf einer Ebene der reinen Authentizität und Sichtbarkeit und das, was verbindet, ist das Vertrauen, dass der Andere genau so verletzlich ist, wie man selbst.
So habe ich M. kennengelernt - eine taffe, intelligente, geradlinige Frau, die fünf Kindern das Licht der Welt geschenkt hat und wohl den grössten Teil ihres Lebens auf sich alleine gestellt gewesen war. Ihre Launenhaftigkeit konnte gelegentlich ziemlich herausfordernd sein und sie machte keinen Hehl daraus, dass sie sich von der Welt verlassen fühlte. Dennoch hatte ich sie von Anfang an in mein Herz geschlossen.
Sie kannte das Hospiz bereits von einem früheren Aufenthalt, konnte damals jedoch aufgrund der positiven Entwicklung ihres Krankheitsverlaufs auf ihren eigenen Wunsch wieder nach Hause zurückkehren. Ihr christlich-religiöser Glaube war überaus stark und sie war sich sicher, dass Gott hier ein Wunder vollbracht hatte. Den ganzen Sommer konnte sie geniessen, bis sie in einer akuten Situation erneut abgeholt werden musste. Sie vermisste ihre Kinder und ihr Sehnen danach, aufgefangen zu werden, wurde von vielen falsch verstanden.
So gab es Zeiten, da sah sie gelassen der Heimkehr zu Gott entgegen, aber auch Zeiten, da machten sie die Angst, das allein sein und ihre Albträume fast wahnsinnig.
Doch ihr Gott liess sie nicht im Stich. In den Armen einer liebevollen Pflegerin durfte sie sich letztlich ganz fallen lassen und in diesem geborgenen Moment ihre letzte Reise antreten...
Tags darauf verabschiedete ich mich von ihrem sterblichen Kleid.
Es fühlte sich an, als ob sie noch immer da war. Vielleicht hatte sie auf mich gewartet - schliesslich pflegten wir seit ihrer ersten Zeit im Hospiz einen engen Kontakt. Ich nahm ihre kalten, leblosen Hände in meine, sang für sie das Lied "The rose" und bat sie in Gedanken, mir doch ein Zeichen zu schicken, wenn sie wohlbehalten "d'rüben" angekommen ist. Während ich noch bei ihr war, begann sich die Energie im Raum zu klären. Die Spannung, die zu Beginn in der Luft gelegen hatte, löste sich spürbar auf. Alles wurde ruhig und friedlich.
Am nächsten Morgen, als ich meine älteste Tochter an die Bus-Haltestelle fahren wollte, war meine Windschutzscheibe zugefroren. Nicht ungewöhnlich in dieser Jahreszeit, aber dennoch mühsam. Das Kratzen blieb mir jedoch glücklicherweise erspart - welch ein Segen. Es reichte, die Scheibenwischer mit Anti-Frost-Scheibenreiniger ein paar mal laufen zu lassen.
Ich fuhr also gerade rückwärts aus unserer Einfahrt, als Sara zu mir sagte:"Mami, Du häsch en Engel uf de Schiibe...!"
Da sah ich erst genauer hin und tatsächlich: Der gefrorene Rest auf der Beifahrerseite meiner Windschutzscheibe hatte die Form eines knieenden, betenden Engels und allem Kitsch zum Trotz auch noch die Silhouette eines liegenden Schäfchens daneben! Ich versuchte natürlich gleich, dieses Phänomen zu fotografieren - bei den Lichtverhältnissen morgens um 6.30 h leider ein unmögliches Unterfangen. Auf dem Foto sah man gar nichts und bis wir im besser beleuchteten Dorf angekommen waren, war der ganze Zauber verschwunden.
Aber nur auf der Windschutzscheibe. Sara und ich werden dieses berührende Bild dankbar in unserer Erinnerung behalten, als Zeichen der Freundschaft, die mich mit Dir, liebe Freundin, verbunden hat. Auch wenn ich nach wie vor Mühe habe mit der Bibel, Du hast meinen Glauben und meine Zuversicht, dass alles seine Richtigkeit hat und das Göttliche gnädig ist, wiederbelebt. Und Deine Botschaft bleibt in meinem Herzen verankert. Für immer.